Gedanken zum 75jährigen Jubiläum der Kolpingfamilie Dahn



Glückwunsch

Anreden, Dank für Einladung

zum 75. Jahrestag der Gründung der Kolpingfamilie St. Laurentius in Dahn

überbringe ich Ihnen im Namen des Katholikenrates und auch persönlich die

besten Wünsche.

Jubiläumsfeiern bieten eine Gelegenheit zum Rückblick auf das Vergangene,

zum Ausblick in die Zukunft und zur Bestimmung des eigenen Standortes.

Darüber hinaus – auch das darf man nicht vergessen – sind sie auch ein Akt

der Zustimmung zum Dasein. Wer feiert, ist dankbar. Wer feiert, hat noch

Pläne für die Zukunft.

Lassen Sie mich das Zeitgemälde der 1930er Jahre, das Pfarrer König vorhin

in seiner Predigt entworfen hat, um einen weiteren Aspekt ergänzen. Die

Gründung der Dahner Kolpingfamilie vor 75 Jahren fällt nicht nur in eine

Phase des religiösen Aufbruchs, sondern auch in eine Zeit mit großen

sozialen, gesellschaftlichen und politischen Problemen. Der Erste Weltkrieg

war zwölf Jahre vorbei. Gerade in unserer Region waren die Wunden des

Krieges zu diesem Zeitpunkt noch frisch. Das Land stand unter dem Eindruck

der Weltwirtschaftskrise. Es herrschten eine hohe Arbeitslosigkeit und ein

großes soziales Elend, das nicht nur die großen Städte betraf, sondern auch

vor dem ländlichen Raum nicht halt machte. Auf politischer Ebene bildete

diese schwierige wirtschaftliche und soziale Situation den Nährboden für

einen zunehmenden Extremismus von Rechts wie von Links: Bei den

Reichstagswahlen am 14. September 1930 erhöhte die NSDAP ihren Stimmenanteil

von 2,6 auf über 18 Prozent. Und auch auf politischen Linken war eine

deutliche Radikalisierung spürbar: Die Kommunisten legten von 10,6 auf über

13 Prozent zu.

Bei aller Verschiedenheit ihrer Ziele hatten diese beiden extremistischen

Parteien doch eines gemeinsam: Sie lehnten die parlamentarische Ordnung mit

aller Entschiedenheit ab. Die Nazis strebten eine Rassenherrschaft an; die

Kommunisten eine Klassenherrschaft. Beide leugneten sie den Wert und die

Würde des einzelnen Menschen und setzten stattdessen allein auf den Staat

und das Kollektiv.

Das waren die politischen Rahmenbedingungen als sich hier in Dahn Anfang der

30er Jahre der Jünglings- und der Arbeiterverein zu einer Kolpingfamilie

zusammenschlossen. Ich finde es bemerkenswert, daß sich in einer Zeit, in

der das Unheil schon fast mit Händen zu greifen war, hier in Dahn mutige

Männer zusammenfanden und für ein Menschenbild und ein Gesellschaftsmodell

eintraten, das in entschiedenem Widerspruch zu den Strömungen dieser Zeit

stand:

* Wer sich 1930 zu Kolping und seinen Zielen bekannte, der war kein

Anhänger eines allmächtigen Staates, sondern setzte auf die

Selbstverantwortung aller gesellschaftlichen Kräfte.

* Wer sich 1930 hinter der Fahne der Kolpingbewegung einreihte, der

war nicht für rote oder braune Gleichmacherei, sondern für geschwisterliche

Solidarität auf der Basis christlicher Nächstenliebe.

* Wer 1930 in Deutschland eine Kolpingfamilie gründete, der trat

nicht für den gewaltsamen Umsturz ein, sondern für die katholische

Soziallehre.

Auch wenn das Dritte Reich und der Zweite Weltkrieg furchtbare Rückschläge

auf diesem Weg waren, hat die Zeit den Gründern Ihrer Kolpingfamilie hier in

Dahn letztendlich doch recht gegeben:

Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der der Wert und die Würde des

Individuums weitgehend anerkannt sind. Wir leben in einer Gesellschaft, in

der – bei allen Schwierigkeiten in der Praxis – soziale Mindeststandards

gelten und in der jeder einen Zugang zu Wissen, Bildung und sozialem

Aufstieg hat.

Dies alles ist keine Selbstverständlichkeit. Sondern es ist nicht zuletzt

auch das Verdienst einer Generation von Menschen, die sich auch während des

Dritten Reiches ihre christlichen Werte bewahrt haben. Die Gründer der

Dahner Kolpingfamilie gehören zu dieser Generation. Auch dafür sollten wir

an einem Tag wie heute dankbar sein. Und vielleicht sollten wir uns ab und

zu einmal fragen, was diese Menschen wohl sagen würden, wenn sie unsere

heutige Gesellschaft sehen würden.



Geschwisterlichkeit in unserer Kirche

Die weltweite Kolpinggemeinschaft nennt sich „Kolpingfamilie“. „Familie“,

das hat etwas mit Heimat zu tun. Familie heißt, daß es da Menschen gibt, die

unterschiedliche Rollen wahrnehmen und dennoch zusammenhalten. Die Familie

ist eine Lebens- und Lerngemeinschaft. Sie ist ein sozialer Erfahrungsraum;

ein Ort, an dem Solidarität und Rücksichtnahme eingeübt werden. Wir alle

wissen, daß die Realität in unseren Familien nicht immer so ideal ist, wie

wir sie uns vielleicht wünschen. Dennoch: Der Begriff „Kolpingfamilie“

zeigt, daß diese Gemeinschaft mehr ist als ein bloßes Interessenbündnis,

daß sie auch einen Konflikt aushalten kann und daß sie ein übergeordnetes

Ziel verfolgt, nämlich die Befähigung ihrer Mitglieder, sich als Christen

in der Welt zu bewähren und an der Erneuerung und Humanisierung unserer

Gesellschaft mitzuwirken.

Kennzeichnend für eine Familie sind drei Beziehungsachsen: Zunächst einmal

ist da die Beziehung zwischen Frau und Mann, die die Grundvoraussetzung für

alle weiteren familiären Bindungen bildet. Dann die Beziehung zwischen

Eltern und Kindern. Und schließlich gibt es als dritte Achse den

Zusammenhalt zwischen den Kindern einer Familie. Diese dritte

Beziehungsebene ist die Geschwisterlichkeit – oder wie man früher, in der

Zeit vor dem „großen I“ gesagt hätte: die Brüderlichkeit.

Die Geschwisterlichkeit ist eine merkwürdige Tugend: Anders als die Liebe

sucht sie sich ihren Gegenstand nicht selbst aus. Die Grundlage der

Geschwisterlichkeit bildet nicht die Wahl, sondern die Gemeinschaft, in die

man hineingestellt ist. Geschwister haben gemeinsame Eltern, einen

gemeinsamen Ursprung. Sie wachsen in der gleichen Lebenssituation auf;

teilen das gleiche Schicksal und die gleichen materiellen Güter. Geschwister

leben solidarisch. Sie herrschen nicht übereinander, sondern teilen

miteinander.

Der Begriff „Geschwisterlichkeit“ hat viele Facetten: Wer von

Geschwisterlichkeit spricht, denkt an Treue und Solidarität, an Eintracht

und Zusammenhalt, an Gleichheit, an das Miteinander-Teilen. Zur

Geschwisterlichkeit gehört auch die Vorstellung, daß die Kleinen und

Schwachen zusammenhalten und sich von den Starken nicht

auseinanderdividieren lassen. All das schwingt mit, wenn wir von

Geschwisterlichkeit sprechen.

Kein Wunder, daß das Wort „Geschwisterlichkeit“ und sein Vorgänger, die

Brüderlichkeit, schon früh auch eine politische Karriere gemacht haben. So

schrieb die Französische Revolution sich nicht nur Freiheit und Gleichheit

auf die Fahnen, sondern auch das versöhnende Element der „fraternité“, der

Brüderlichkeit.

Es mag sein, daß die Geschwisterlichkeit aufgrund dieses revolutionären

Verwendungszusammenhangs für manche von uns einen etwas – nun ja –

„linkslastigen“ Beigeschmack bekommen hat. Das darf aber nicht darüber

hinwegtäuschen, daß die Geschwisterlichkeit eine zentrale Kategorie des

Evangeliums ist.

* Wie oft redet Jesus seine Jünger als Brüder – heute würden wir

ergänzen: und Schwestern – an?

* Wie oft ermahnt er zum Teilen und zur Brüderlichkeit. Wie oft lebt

er selbst uns das Teilen vor?

Mir persönlich fallen beim Stichwort „Geschwisterlichkeit“ vor allem drei

Stellen aus der Bibel ein:

Die erste dieser Szenen hatten wir vorhin beim Festgottesdienst in der

Kirche an der Chorwand vor Augen: Maria und Johannes unter dem Kreuz. Im

Johannesevangelium heißt es dazu: „Als Jesus die Mutter und den Jünger, der

er liebte, dastehen sah, sagte er zu seiner Mutter: ‚Frau, da ist dein

Sohn.’ Dann sagte er zu dem Jünger: ‚Da ist deine Mutter.’“ Indem Jesus

seine Mutter gleichsam mit Johannes teilt, macht er ihn im wörtlichen Sinne

zu seinem Bruder.

Dann die Erzählung über die Emmausjünger: Zwei Menschen gehen gemeinsam

einen schweren Weg. Sie sind traurig und enttäuscht. Da gesellt sich ein

Dritter zu ihnen, teilt ihren Weg und gibt ihm eine neue Wendung. Mit den

Worten von Lukas: „Da wurden ihnen die Augen aufgetan und sie erkannten

ihn.“

Und schließlich das Evangelium von Pfingsten: Die Jünger haben sich

gemeinsam in einem Haus versammelt als der Geist Gottes über sie kommt. Und

dieser Geist hebt alle Grenzen der Sprache, Abstammung, Volkszugehörigkeit

und sozialen Schichtung auf.



Wir alle wissen: Vieles von dem, was wir in der Bibel als

Geschwisterlichkeit erleben, ist im Lauf der Kirchengeschichte verschüttet

worden und verloren gegangen. Dahinter muss nicht unbedingt böse Absicht

stecken: Eine Kirche, die als Institution in der Welt überleben will, muß

sich notgedrungen auch manche Instrumente dieser Welt zu eigen machen. Auch

in der Kirche wurde über lange Zeit vor allem die Beziehung in der

Vertikalen gepflegt. Oben und unten; Macht und Ohnmacht; Hirt und Herde; der

Vater und seine (unmündigen) Kinder. Das sind die Bilder, wie auch wir sie

noch kennen und wie sie unser Kirchenrecht und unser Kirchenbild bis heute

prägen.

Erst das Zweite Vaticanum hat vor 40 Jahren dem Element der

Geschwisterlichkeit wieder deutlicher eine eigene Würde und einen eigenen

Wert zugesprochen, indem es die Kirche als „wanderndes Gottesvolk“

beschrieben hat.

Wer heute von „Geschwisterlichkeit in unserer Kirche“ spricht oder diese

anmahnt, hat ein bestimmtes Kirchenbild vor Augen.

* In einer geschwisterlichen Kirche ist die Gemeinschaft wichtiger

als das Oben und Unten.

* Eine geschwisterliche Kirche zieht sich nicht aus der Gesellschaft

zurück, sondern teilt die Nöte der Menschen.

* Eine geschwisterliche Kirche stützt sich nicht allein auf die

Autorität des Amtes, sondern auch auf die Fähigkeiten und Talente ihrer

Mitglieder.

* In einer geschwisterlichen Kirche gilt der Grundsatz, daß das, was

alle angeht, auch von allen entschieden werden muß.

Geschwisterlichkeit heißt nicht „Demokratie um jeden Preis“.

Geschwisterlichkeit in der Kirche bedeutet nicht, daß über

Glaubenswahrheiten abgestimmt werden soll. Wer für eine Geschwisterliche

Kirche eintritt, leugnet nicht die Notwendigkeit eines verbindlichen

Lehramtes. Aber er verlangt, daß das hierarchische Verhältnis von Oben und

Unten in eine Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern eingebettet ist, die

vor Gott gleich sind.

Wir alle wissen, daß unsere Kirche in vielen Bereichen noch weit vom Bild

einer solchen Geschwisterlichkeit entfernt ist.

Besonders deutlich zeigt sich dieses Defizit bei der Amtsfrage. Um nicht

falsch verstanden zu werden: Mir geht es weder darum, die Autorität des

Bischofs zu untergraben noch möchte ich die Notwendigkeit der

Gemeindeleitung durch einen Priester in Frage stellen. Aber wäre es nicht

besser für alle Beteiligten, wenn diese Leitung sich auf die Bereiche

beschränken würde, für die es eine klare theologische Notwendigkeit gibt?

Es ist uns nicht am Berge Sinai gesagt worden, daß ein Pfarrer durch die

Priesterweihe automatisch auch zum Experten für Bau und Finanzfragen wird.

Warum stützten wir uns dann in der Kirchenverwaltung nicht stärker auf

Laien, die aufgrund ihrer Ausbildung etwas von der Sache verstehen? Warum

muss der Pfarrer im Verwaltungsrat das letzte Wort haben? Würde es nicht

auch für ihn eine Entlastung bedeuten, wenn er sich auf die Aufgaben

konzentrieren könnte, für die er geschult und geweiht ist?

Ein weiterer Bereich, auf dem ein Mangel an Geschwisterlichkeit in unserer

Kirche schmerzhaft zu spüren ist, betrifft die Stellung der Frau in der

Kirche. Lassen Sie uns dazu ein kleines Gedankenspiel machen: Stellen Sie

sich eine große und traditionsreiche Institution vor, deren aktive

Mitglieder überwiegend Männer sind. Die ehrenamtlichen Dienste in dieser

Gruppe werden fast ausschließlich von Männern erbracht: Sie putzen und

pflegen die Gebäude, sie betreuen die Kinder, sie kümmern sich um die

Senioren und sie sorgen dafür, daß die junge Generation im Geist und nach

den Regeln der Institution erzogen wird, damit auch die Kinder später in

diese Gemeinschaft hineinwachsen. Fast alles, wofür diese Vereinigung in der

Gesellschaft geschätzt wird, beruht letztlich auf der Arbeit von Männern.

Und dennoch gibt es da ein ungeschriebenes Gesetz, wonach die obersten

Leitungsämter in dieser Institution ausschließlich Frauen vorbehalten sind.

Die Männer haben die Arbeit- und die Frauen das Amt.

Was glauben Sie wohl, werden junge, gut ausgebildete und selbstbewußte

Männer in einer solchen Institution tun? – Richtig: Die einen werden sich

zusammenschließen und gegen diese offenkundige Ungerechtigkeit aufbegehren.

Andere werden wissenschaftliche Traktate gegen das Matriarchat verfassen.

Sie werden zu Recht fragen, ob es tatsächlich im Sinn der „Gründerin“ dieser

Institution ist, daß Männer trotz gewandelter gesellschaftlicher

Verhältnisse auch nach Jahrhunderten nur Menschen zweiter Klasse sind. Und

dann wird es da noch eine dritte Gruppe von Männern geben, nämlich

diejenigen, die irgendwann dieser Institution den Rücken kehren und

resigniert zu Hause bleiben werden. Und diese Gruppe wird vermutlich die

größte sein.

Genau das ist die Situation in unserer katholischen Kirche von heute – nur

mit umgekehrten Vorzeichen: Bei uns sind es nicht die Männer, sondern die

Frauen, die die große Mehrzahl der ehrenamtlichen Helfer und auch der

hauptamtlichen Mitarbeiter stellen, die aber in der Kirchenleitung kaum eine

Stimme haben. Stellen Sie sich einen katholischen Kindergarten, ein

Krankenhaus, einen Pfarrgemeinderat, einen Besuchsdienst oder eine

Erstkommuniongruppe ohne Frauen vor. Obwohl in unseren Gottesdiensten am

Sonntag die Frauen bei weitem in der Mehrheit sind, obwohl das Gesicht

unserer Kirche entschieden weiblich geprägt ist, obwohl ohne Frauen in

unserer Kirche schon lange nichts mehr liefe, werden Frauen in der

katholischen Kirche bis heute mit durchaus fragwürdigen Begründungen von

höheren Führungs- und Leitungsaufgaben ausgeschlossen. Geschwisterlich ist

das ganz sicher nicht.



Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder!

Die Zeiten im Moment stehen nicht besonders gut für das Leitbild einer

geschwisterlichen Kirche. Die leeren Kassen und die unbestreitbaren

Sparzwänge führen dazu, daß allenthalben über den Rückzug der Kirche aus der

Gesellschaft und über die Beschränkung auf angebliche „Kernaufgaben“

diskutiert wird.

Bestimmte Gruppen plädieren für eine Kirche ohne Räte und Verbände, für eine

kleine, schlagkräftige Truppe, die sich mutig dem Zeitgeist und seinen

Irrungen entgegenstellt. In einem solchen Kirchenbild ist kein Platz für

die Kategorie der Geschwisterlichkeit. Und mit Verlaub: In einer solchen

Kirche wäre auch kein Platz für einen Verband wie Kolping, der sich als

Brücke zwischen Kirche und Gesellschaft versteht.

Ich finde es deshalb mutig und richtig, daß sich die Kolpingfamilie Dahn für

ihr Jubiläumsjahr das Motto „Geschwisterlichkeit in der Kirche“ gewählt

hat. Wir wissen, daß wir noch weit von diesem Ziel entfernt sind. Aber wir

wissen auch, daß die Welt unser geschwisterliches Handeln, unsere

Solidarität, unsere Weggemeinschaft und unser Miteinander-Teilen braucht.

Das Kreuz, das Symbol unseres Glaubens, besteht aus zwei Balken: einem

horizontalen und einem vertikalen. Der senkrechte Balken verbindet Oben und

Unten, Himmel und Erde. Der horizontale Querbalken greift zur Seite aus,

verbindet uns mit unseren Mitmenschen. Aber nur in ihrer Beziehung

zueinander ergeben diese beiden Balken ein Kreuz.

Unsere Kirche ist sicher mehr als nur gelebte Geschwisterlichkeit. Aber ohne

Geschwisterlichkeit wäre sie nicht Kirche.



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